mein Blick als Physiotherapeutin
Schmerz ist fast immer der Anlass für den Beginn einer physiotherapeutischen Therapie.
Ob Rückenschmerzen, Schulterbeschwerden, ein verspannter Nacken oder Knieschmerzen beim Laufen – Schmerz ist meist der Grund, warum Patient:innen in die Praxis kommen. Wenn Schmerzen den Alltag beeinträchtigen, scheinbar nicht von selbst verschwinden oder auf einer Bildgebung (Röntgen/MRT) sogar eine vermeintliche Ursache festgestellt wurde, suchen sich viele Menschen Hilfe – und das ist auch gut so!
Warum ich beim Thema Bildgebung von einer „vermeintlichen Ursache“ spreche, erkläre ich später genauer.
Der Schmerz hat oft eine starke negative Präsenz im Alltag der Betroffenen und wird deswegen leider häufig missverstanden.
Was ist Schmerz eigentlich?
Aus physiologischer Sicht ist Schmerz ein Schutzmechanismus unseres Körpers. Wenn Gewebe verletzt ist – zum Beispiel bei einer Entzündung oder einer Überdehnung einer Sehne – registrieren spezielle Nervenzellen (Nozizeptoren) diese Reize und leiten die Information über das Rückenmark an das Gehirn. Erst im Gehirn wird daraus der bewusste Schmerz.
Unser Gehirn „entscheidet“ dabei, ob und wie stark der Schmerz wahrgenommen wird. Das hängt von vielen Faktoren ab – den körperlichen, emotionalen, sozialen und kognitiven.
Das erklärt, warum Menschen bei ähnlichen Befunden ein unterschiedliches Schmerzempfinden haben – oder warum Schmerz auch dann bleibt, wenn die ursprüngliche Gewebeschädigung längst verheilt ist.
Wenn jemand zum Beispiel Angst vor einer erneuten Verletzung hat oder frühere Schmerzerfahrungen psychisch sehr belastend waren, kann das Gehirn weiterhin Schmerz erzeugen – auch ohne aktuellen Schaden.
Es kann natürlich auch tatsachlich ein Gewebeschaden vorliegen – zum Beispiel sichtbar in der Bildgebung als Bandscheibenvorfall. Viele Patient:innen sind sich nach so einem Befund sicher, dass sie nun die Ursache für ihre Schmerzen kennen: „Die Bandscheibe ist kaputt – ich sehe es auf dem MRT – also habe ich deshalb Schmerzen.“
Doch so einfach ist es oft nicht.
Studien zeigen
Studien zeigen, dass ein sichtbarer Schaden nicht gleichbedeutend mit Schmerz ist – und umgekehrt muss Schmerz nicht bedeuten, dass etwas kaputt ist. Entscheidend ist immer, wie das Nervensystem die Situation bewertet und wie das Gehirn den Schmerz „einordnet“ – abhängig von Stress, Emotionen und Vorerfahrungen spielen.
Spannend dabei ist: Radiolog:innen können anhand der Bildgebung nicht eindeutig sagen, wer tatsächlich Schmerzen hat. Denn Bildbefunde sagen nichts darüber aus, wie stark der Schmerz empfunden wird – oder ob er überhaupt vorhanden ist.
Ich erinnere mich noch gut an einen Satz aus meiner Ausbildung: „Das Gute am MRT ist, dass man alles sieht. Das Schlechte am MRT ist – man sieht alles.“
Auch ganz normale, altersentsprechende Veränderungen können sichtbar sein – deswegen sind es manchmal reine Zufallsbefunde, die mit den aktuellen Schmerzen gar nichts zu tun haben müssen.
Wenn Schmerzen über längere Zeit bestehen, verändert sich das Nervensystem – es wird „sensibler“.
Innere Alarmanlge
Man kann sich das wie eine Alarmanlage vorstellen, die plötzlich schon bei kleinsten Reizen auslöst – obwohl eigentlich keine echte Gefahr besteht. Dieses Phänomen nennt man zentrale Sensibilisierung.
Das bedeutet: Das Rückenmark und das Gehirn verstärken Schmerzsignale. Es braucht weniger Reiz, um Schmerz auszulösen – das Nervensystem reagiert schneller, intensiver, und manchmal sogar ohne erkennbaren Auslöser.
Was kann man sich nun erwarten, wenn man mit Schmerzen in unsere Praxis kommt?
Für mich als Therapeutin heißt das: Ich möchte den Menschen hinter dem Symptom kennenlernen – und mir ein möglichst umfassendes Bild machen.
Neben den klassischen Informationen zum Schmerz – wie es dazu kam, wie er sich anfühlt, wann er auftritt, was ihn lindert oder verschlimmert – spielen auch andere Lebensbereiche eine wichtige Rolle: Wie wird geschlafen? Wie sieht der Alltag aus? Gibt es viel Stress? Wie ist die Ernährung? Wird geraucht? Und vieles mehr…
Diese Aspekte beeinflussen das Schmerzempfinden ganz entscheidend – und genau deshalb gehören sie für mich mit in die Therapie.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es für viele meiner Patient:innen eine echte Erleichterung ist zu hören, dass sie mehr in der Hand haben, als sie vielleicht dachten. Dass sie nicht ihre Bildgebung sind. Und dass sie aktiv etwas zur Verbesserung ihrer Situation beitragen können. Das schenkt vielen neuen Mut und das Gefühl, wieder ein Stück Kontrolle über ihren Körper zurückzugewinnen.
So gestalte ich auch meine Therapie – nicht eindimensional, sondern ganzheitlich.
Der Schmerz wird nicht isoliert betrachtet, sondern immer im Zusammenhang mit dem gesamten Menschen: seiner Geschichte, seiner psychischen Verfassung, seinem Bewegungsverhalten – und dem, was ihn im Alltag umgibt.
Schmerz ist mehr als ein körperliches Symptom, er ist ein komplexes Zusammenspiel aus biologischen, psychischen und sozialen Faktoren – und genau deshalb verdient er auch eine Therapie, die all diese Ebenen mit einbezieht. Denn: Schmerz ist nicht der Feind, er ist ein Signal.



